Stereotypbedrohung: Wie frei ist unser freier Wille?

Frauen kaufen gern Schuhe und Männer Autos. Männer sind durchsetzungsfähig. Jungs sind gut in Mathe, Mädchen dafür in Sprache. Frauen sind fürsorglich. Deshalb sind Männer technisch begabt und Frauen ergreifen soziale Berufe.
Ob wir wollen oder nicht: Solche Geschlechterstereotype stecken irgendwo tief in unserem Unterbewusstsein drin, denn sie wurden uns schon eingepflanzt, bevor wir geboren wurden. Unser freier Wille ist also teilweise schon gesteuert, bevor wir das Licht der Welt erblicken. Das hat verheerende Auswirkungen, wie Sie gleich sehen werden – aber wir können auch etwas dagegen tun!
Was ist ein Stereotyp?
In der Psychologie sind Stereotype kognitive Schemata, die automatisch aktiviert werden. Sie filtern die Wahrnehmung. Diese Kategorisierungen helfen bei der Orientierung. Wenn uns eine unbekannte Person begegnet, haben wir nicht immer die Möglichkeit, uns ein umfassendes Bild von ihr zu machen. Unser Hirn greift deshalb unbewusst zu den Stereotyp-Filtern, um die Informationen zu vereinfachen und zu schubladisieren. Das hilft uns, unser Gegenüber schnell einschätzen zu können und uns so zurechtzufinden.
Doch die Überzeugung, dass bestimmte Eigenschaften charakteristisch für eine Gruppe von Personen sind, kann sowohl positiv als auch negativ, wahr oder falsch sein. Individuelle Unterschiede verschwinden. Dank der Stereotype geschieht es im Alltag oft, dass wir Menschen Eigenschaften zuschreiben, die ihnen nicht gerecht werden. Was sowohl der Persönlichkeit, dem Selbstbewusstsein, der mentalen Gesundheit als auch der Wirtschaft schadet.
Wir haben haufenweise Stereotype intus!
Am umfassendsten sind Stereotype in Bezug auf unser Geschlecht, denn sie werden auch sprachlich vom ersten Moment an aktiviert, in dem über ein ungeborenes Kind gesprochen wird. Ob wir als Junge oder Mädchen wahrgenommen werden, hat Auswirkungen darauf, wie wir angesprochen werden und was von uns erwartet wird. Vermittler*innen sind Eltern, andere Kinder, Schule, Medien, Werbung und die Sprache selber. Dieses «Wissen» prägt uns ein Leben lang, denn wir verinnerlichen es und es wird so Teil unseres Selbstbildes. Und weil ein Kind sich aus zahlreichen Gründen immer den Umständen anpasst, wird es sich den Erwartungen entsprechend verhalten oder es zumindest versuchen.
Das Gefährliche daran: die Stereotypbedrohung
Stereotype schränken unseren Gedanken-, Gefühls- und Handlungsspielraum ein. Sie begrenzen Kinder in ihrer Entwicklung und Lebensentwürfen und wirken oft unhinterfragt bis ans Lebensende. Das birgt ernstzunehmende Gefahren, denn so entfalten die Geschlechterstereotype schleichend und unbewusst ihre Wirkung. Inzwischen ist bekannt, …
- dass sich Richter*innen bei ihren Entscheidungen von Geschlechterstereotypen leiten lassen. (Miller 2018)
- dass Zeiten der Arbeitslosigkeit bei Männern negativer beurteilt werden in Einstellungsgesprächen als bei Frauen. (Smith et al. 2005)
- dass Studierende die Lehrveranstaltungen von Dozenten besser beurteilen als die von Dozentinnen, auch wenn sie bei den Dozentinnen mehr lernen. (Boring et al. 2006)
«Das ist sozial ungerecht und eine Verschwendung von Ressourcen.»
Prof. Dr. Hilke Elsen, (Prof. für germanistische Linguistik; «Gender-Sprache-Stereotype», Verlag utb., 2020 )
Dazu kommt: Das Nichteinhalten von Stereotypen wird nicht nur sanktioniert, sondern auch als Rechtfertigung für Diskriminierung herangezogen. Kinder werden ausgelacht und aufgezogen, wenn sie nicht geschlechterkonformes Verhalten zeigen. Sie werden gemäss Geschlechterstereotypen einseitig gefördert und meiden Berufe, die «nicht zu ihrem Geschlecht passen»:
- In Männerdomänen wie Naturwissenschaften, Mathematik Computertechnik und IT kommt es gegenüber Mädchen sehr oft zu entmutigenden Kommentaren – von Gleichaltrigen, aber auch von Lehrpersonen und Vätern (weniger oft von Müttern).
- Frauen und Männer haben Angst vor den negativen Folgen nichtstereotypen Verhaltens – aber bei Frauen ist die Angst, von der Gesellschaft nicht akzeptiert zu werden und als zu männlich angesehen zu werden, wesentlich grösser und hält sie von «untypischen» Karrieren ab. (Cherry/ Deaux 1978, Golombok/ Fivush 1994:192ff.)
- Wenn vor einem Mathematiktest gesagt wird, dass Frauen und Männer unterschiedlich abschneiden und dadurch das Vorurteil «Frauen sind schlechter in Mathe» aktiviert wird, liefern Mädchen und Frauen deutlich schlechtere Resultate als in einer neutralen Situation.
- Werden negative Stereotype vor einem Experiment aktiviert, führt dies durchs Band zu schlechteren Ergebnissen und das bereits bei Fünfjährigen.
Die Stereotypbedrohung ist also ein wichtiger Grund, weshalb so wenige Frauen in der Informatikbranche zu sehen sind und wenige Männer in sozialen Berufen. «Das ist sozial ungerecht und eine Verschwendung von Begabungen und intellektuellen Ressourcen», wie es Prof. Dr. Hilke Elsen (Forschungsschwerpunkte Sprachvarietäten, Neologismen/ Lexikologie, Wortbildung und Genderlinguistik) auf den Punkt bringt.
Was können wir dagegen tun?
Seien Sie beruhigt: Das Hirn ist ein plastisches Gebilde, und alles, was wir einmal gelernt haben, können wir auch wieder verlernen! Es braucht aber ein bisschen Arbeit, besonders von Elternhaus, Schule und Arbeitgebenden.
Was wir aufklärend und handelnd tun können:
- Selbstständigkeit fördern
- in gleichgeschlechtlichen Gruppen prüfen
- Intelligenz als formbar betrachten
- Positive Rollenbilder aufzeigen
Unsere Sprache weist zahlreiche Nachteile für Frauen und nonbinäre Menschen auf. Sie bevorteilt Männer. Stereotype werden unbewusst auch dann ausgelöst, wenn Frauen sprachlich nicht erwähnt werden. Damit erweist sich die Sprache als mitverantwortlich und verstärkend für mangelnde Gleichberechtigung. Unbewusst wird eine Distanz zu typischen Männerberufen aufgebaut, was wiederum die stereotype Verteilung verstärkt. Langfristig führt eine gerechte Sprache zu einer Aufwertung von «Frauenberufen» und einer faireren Beteiligung aller Geschlechter an verschiedenen Berufsgruppen. Damit zahlt sich gendergerechte Sprache auch für Männer auf, die sich für nicht von Männern dominierten Berufe interessieren.
Was wir sprachlich tun können:
- Stereotype thematisieren
- die Effekte der Stereotypbedrohung erklären
- geschlechtersensibel sprechen und schreiben
Dieser sprachliche Sozialisierungsprozess hat weitreichende Folgen: «Eine Gesellschaft, in der Männer und Frauen gleichberechtigt sind oder sein sollten, sollte das generische Maskulinum aus vielerlei Gründen aufgeben,» sagt auch Prof. Dr. Hilke Elsen. Geschlechtersensible Bezeichnungen bei Berufsbeschreibungen weichen Stereotype auf. Dies ist ein einfacher, aber wichtiger Beitrag von Eltern und Lehrpersonen, die das Selbstbewusstsein und die Selbstwahrnehmung von Kindern positiv unterstützen wollen.
Herzliche Grüsse, Asha Ospelt-Riederer
P.S. Wenn Sie Hilfe brauchen, lassen Sie es mich wissen, per Mail, als DM auf Instagram oder Nachricht auf LinkedIn. Mein nächster Vortrag «Mit Kindern gendern» findet am Mittwoch 8.Juni, um 19.00 Uhr in Vaduz statt (Gebäude 10.Schuljahr). Da geht es auch um Stereotype und Rollenbilder, Medien, Kinder und natürlich gendern.
P.P.S. Kinder, die mehr Fernseh schauen (und wohl auch auf sozialen Medien verkehren), zeigen mehr geschlechtstypisches Verhalten (Golombok/ Fivush 1994:34). Offenbar transportieren diese Medien Stereotype in verstärkter Form. Venus-Frau und Mars-Mann lässt grüssen…